Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien haben
besonders stark mit kognitiven Langzeitdefiziten nach einem Schlaganfall zu kämpfen. Das ist
das zentrale Ergebnis einer aktuellen Studie an der Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendheilkunde der MedUni Wien unter der Leitung von Lisa Bartha-Doering und Rainer Seidl.
Der kindliche Schlaganfall ist mit einer Inzidenz von 2 bis 5 Fällen pro 100.000 Kindern pro Jahr eine seltene Erkrankung. Doch für Österreich bedeutet das, dass immerhin bis zu 75 Kinder pro Jahr einen Schlaganfall erleiden. Knapp die Hälfte leidet nach einem Schlaganfall unter anhaltenden neurologischen Defiziten. Neben körperlichen und motorischen Defiziten gibt es häufig Einschränkungen in Sprache, Aufmerksamkeit, Arbeitsgeschwindigkeit, Wahrnehmung und Gedächtnis. Die Arbeitsgruppe um Lisa Bartha-Doering und Rainer Seidl konnte nun zeigen, dass Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien nach einem Schlaganfall besonders stark von kognitiven Langzeitdefiziten betroffen sind.
Lisa Bartha-Doering: „Nicht alle Kinder haben die gleichen Chancen, gesund groß zu werden. Das Verhältnis zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund, in dem soziale und wirtschaftliche Lebensumstände der Kinder zusammengefasst werden, und ihrer Gesundheit wird schon seit vielen Jahren genau dokumentiert. Die Erkenntnis, dass der sozioökonomische Hintergrund nach einer neurologischen Erkrankung Auswirkungen auf das Outcome hat, ist also nicht neu, und doch ist es wichtig, immer wieder daran erinnern. Überrascht hat uns aber, wieviel der Varianz des kognitiven Outcomes von Kindern nach einem Schlaganfall durch ihren sozioökonomischen Hintergrund erklärbar ist.“ Die Studie konnte nämlich zeigen, dass nahezu die Hälfte der Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten auf den sozioökonomischen Hintergrund der Kinder zurückzuführen ist.
Neurokognitives Training wird in Österreich nicht von der Krankenkasse bezahlt
Rainer Seidl, Leiter der neuropädiatrischen Ambulanz im AKH Wien/MedUni Wien, erklärt: „Die Möglichkeit einer frühen Rehabilitation nach der akuten Phase hat sich in den vergangenen Jahren durch die Schaffung kindgerechter Rehabilitationszentren und den Anspruch der Kinder auf Rehabilitation verbessert. Die finanzielle Situation der Familien beeinflusst aber weiterhin den Zugang zu wichtigen weiterführenden, ambulanten Therapien sowie deren Häufigkeit und Dauer. Da TherapeutInnen mit Kassenverträgen oft lange Wartelisten haben, gibt es in Österreich auf Kassenleistung nur einen limitierten Zugang zu physiotherapeutischen, logopädischen und ergotherapeutischen Behandlungen. In ländlichen Regionen ist die Verfügbarkeit von freien Therapieplätzen noch reduzierter. Neurokognitives Training wird in Österreich überhaupt nicht von der Krankenkasse bezahlt. Eltern mit höherem Einkommen finanzieren daher die erforderlichen Therapien oft privat oder zahlen für zusätzliche Therapiestunden. Kinder aus einkommensschwachen Familien kommen so häufig nicht auf dieselbe Anzahl an Therapiestunden wie Kinder mit höherem sozioökonomischen Status.“
Genetische und Umweltfaktoren weiterer wichtiger Grund
Als weiteren wichtigen Grund nennen die ForscherInnen die kognitive Reserve des Kindes, die die individuelle Flexibilität zur Reorganisation von kognitiven Prozessen im Gehirn beschreibt. In der Forschung zur kognitiven Reserve geht man von einem Zusammenspiel aus genetischen und Umweltfaktoren aus: Bei gesunden Kindern ist diese Reserve eng mit den Intelligenzleistungen verknüpft. Die Fähigkeit zur neuronalen Reorganisation und ihr Einfluss auf spezifische kognitive Fähigkeiten spielt besonders nach kindlichem Schlaganfall eine große Rolle.
Als dritten wichtigen Grund für das Studienergebnis sehen die AutorInnen das zudem vermehrte Auftreten von kindlichem Schlaganfall in bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten. Schlaganfall in Kindheit und Jugend ist zwar weniger beeinflusst von typischen Risikofaktoren bei Erwachsenen wie Diabetes, Arteriosklerose, Bluthochdruck oder Rauchen. Durch Infektanfälligkeit, schlechte Ernährung und unzureichend behandelte metabolische Erkrankungen gilt ein niedriger sozioökonomischer Status jedoch als Risikofaktor sowohl für das Auftreten von kindlichem Schlaganfall als auch für dessen Verlauf.
„Unsere Studie zeigt, dass mehr Aufmerksamkeit auf die Behandlung von Kindern aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien gelegt werden sollte. Freier Zugang zu Therapien, inklusive Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie und neurokognitive Therapie, sollte für alle Kinder nach einem Schlaganfall möglich sein. Auch LehrerInnen und BetreuerInnen sollen sensibilisiert werden für die speziell vulnerable Patientengruppe der Kinder mit niedrigerem sozioökonomischen Hintergrund, um ein lernfreundliches, unterstützendes Umfeld für diese Kinder zu schaffen“, fassen die AutorInnen zusammen.
Service: Developmental Medicine and Child Neurology Bartha-Doering L, Gleiss A, Knaus S, Schmook MT, Seidl R. The influence of socioeconomic status on cognitive outcome after arterial ischemic stroke in childhood. Developmental Medicine and Child Neurology 2020. DOI: 10.1111/dmcn.14779.